Qigong und Lebensqualität bei Krebs
Mag. Franz Wendtner
Auch dieses Mal möchte ich in gekürzter Form eine rezente Arbeit zu Qigong vorstellen. Sie ist im März 2010 in den ANNALS OF ONCOLOGY erschienen und befasst sich mit vier Aspekten von Krebserkrankungen. Wie beim Artikel in der letzten Ausgabe unseres Periodikums ist die Basis auch dieses Aufsatzes eine diesmal unter www.oxfordjournals.org frei downloadbare Arbeit, diesmal mit dem Titel:
“Impact of Medical Qigong an quality of life, fatigue, mood and inflammation in cancer patients: a randomized controlled trial” (2010) B. Oh, P. Butow, S. Clarke, P. Beale, N. Pavlakis, E. Kothe, L, Lam and D. Rosenthal. Ann Oncol 2010 March; 21(3). 608 – 614.
Vor allem den an der Statistik interessierten Lesern und Fachleuten sei die Originalarbeit empfohlen.
Krebs
Als Krebs wird im allgemeinen Sprachgebrauch eine aus über 100 unterschiedlichen Ausprägungen bestehende Krankheitsform bezeichnet, bei der es zu einer entarteten Zellteilung kommt. Das heißt, der normale Vorgang der Zellteilung ist gestört, der genetisch geregelte „Bauplan“ nach dem sich jede Zelle erneuert gilt nicht mehr, daher kommt es auch nicht mehr zur Apoptose (programmierter Zelltod). Die Zellen wachsen wild, unkontrolliert und zerstörend in umliegendes Gewebe ein und bilden neben bösartigen Tumoren auch Metastasen (Tochtergeschwülste) in anderen Organen. Prinzipiell kann jedes Organ befallen werden. Inzidenz und Mortalität sind rückläufig, immer mehr Kranke können geheilt werden.
Laut Statistik Austria (2010) erkranken in Österreich jährlich 36 000 Menschen neu an Krebs, wobei die absolute Anzahl an Neuerkrankungen pro Kalenderjahr als Krebsinzidenz bezeichnet wird.
Einige Zahlen
2007 erkrankten in Österreich 35 356 Menschen an Krebs. Das sind wesentlich weniger als im Jahr 2006, in welchem 37 223 Neuerkrankungen verzeichnet wurden. Bei Männern und Frauen haben die Neuerkrankungen von 2006 auf 2007 um 5% abgenommen. Die häufigste Krebserkrankung bei den Männern ist seit 1997 Prostatakrebs (vorher Lungenkrebs), bei den Frauen seit jeher Brustkrebs.
Diese malignen (=bösartigen) Erkrankungen sind unterschiedlich gut behandel- und heilbar, vielfach ist das Stadium, in welchem der Krebs entdeckt und mit der Behandlung begonnen wird, entscheidend. Zu den Risikofaktoren zählen vor allem das Rauchen, aber auch die Ernährung, familiäre Dispositionen, ionisierende Strahlen, Virusinfektionen und das Alter.
Die Erkrankungsraten nehmen mit dem Alter deutlich zu. So erkrankten in Österreich im Jahresdurchschnitt 2005 – 2007 in der Gruppe der 35- bis 44-Jährigen rund 100 Männer und ein wenig mehr als 165 Frauen (bezogen jeweils auf 100.000 Personen gleichen Alters und Geschlechts), bei den 65- bis 74-Jährigen etwa 2000 Männer und ca. 1000 Frauen, Tendenz mit weiter steigendem Alter deutlich zunehmend. Ähnliches, wenn auch stärker ausgeprägt hinsichtlich des Altersverlaufs, zeigt sich bei der Mortalität. Im Altersbereich von 25 – 55 erkranken mehr Frauen an Krebs, ab dem 55. Lebensjahr sind Männer häufiger betroffen.
Krebserkrankungen bilden nach den Herz – und Kreislauferkrankungen die zweithäufigste Todesursache in den meisten Industrieländern. Die häufigste krebsbedingte Todesursache bei den Frauen ist Brustkrebs, bei den Männern Lungenkrebs. Mehr Information gibt es auf www.statistik.at .
(Prä-) Historisches
Krebserkrankungen begleiten Mensch, Tier und Pflanze durch die gesamte Evolution. Schon an Saurierknochen wurden Tumore gefunden, beim Australopithecus, einem unserer Vorfahren aus dem Pliozän (vor ca 5,3 – 2,6 Mio Jahren) wurde Krebs festgestellt und bei den Pharaonen tauchen erste schriftliche Berichte zu Krebserkrankungen und ihrer Behandlung im Edwin Smith- und Ebers Papyrus auf.
Die Namensgebung scheint auf Hippokrates * 460 – † 370 v. Chr. zurückzugehen und sich auf die durch die Haut scheinenden Adern bei einem Mammakarzinom (Brustkrebs) zu beziehen.
Behandlung
Die Behandlung besteht in vielen Fällen aus einer Operation (nicht bei Leukämien), verbunden mit einer begleitenden radiologischen (Bestrahlung) und/oder systemtherapeutischen (Chemo-, Immun-, oder endokrinen) Therapie. Alle genannten Behandlungsformen inkludieren ein teilweise hohes Nebenwirkungsrisiko. Bei Operationen kann es zu mutilierenden Ergebnissen wie Amputationen bei Brustkrebs oder einem Seitenausgang bei Darmkrebs kommen, bei radiologischen und systemischen Therapien zu Haut- und Blutbildveränderungen, Alopezie (Haarausfall), Fatigue (Erschöpfungszustand) und Neuropathien, um nur einige Neben- und Nachwirkungen zu nennen.
Prinzipiell sind viele Nebenwirkungen vor allem medikamentös gut beherrschbar – aber auch Qigong kann wesentlich dazu beitragen, dass man die Erkrankung und ihre Behandlung besser übersteht.
Zusammenfassung
Hintergrund: Eine beträchtliche Anzahl von Krebspatienten – in den USA spricht man von mehr als 80% der Betroffenen – wenden zusätzlich zu ihrer medizinischen Tumorbehandlung auch Methoden an, welche nicht ausreichend naturwissenschaftlich evidenzbasiert sind.
Die o.a. Studie untersucht in einem randomisierten und kontrollierten Setting die Anwendung von „medical qigong“ (MQ) im Vergleich mit „usual care“ also herkömmlicher medizinischer Behandlung (ohne diese näher zu definieren) im Hinblick auf „quality of life“ (QOL) = Lebensqualität von Krebspatienten.
Patienten und Methoden: Es wurden 162 Patienten mit einer ganzen Reihe unterschiedlicher Krebserkrankungen in unterschiedlichen Stadien ihrer Erkrankung in die Untersuchung eingeschlossen. QOL und Fatigue wurden mittels der Skalen der FUNCTIONAL ASSESMENT OF CANCER THERAPYscale – GENERAL (FACT-G) und ihrer Subskala zur Fatigue (FACT-F) erfaßt, die Stimmungslage mittels des PROFILE OF MOOD STATE (POMS) und die Entzündungswerte mittels laufender Überprüfung der Werte des C-REAKTIVEN PROTEINs.
Resultate: Es zeigte sich in den entsprechenden statistischen Analysen, dass die Teilnehmer der Qigong – Gruppen deutlich bessere – und statistisch signifikante – Werte hinsichtlich QOL (P<0.001), Fatigue (P<0.001), Stimmungslage (P>0.021) sowie der Entzündungswerte CRP (P<0.044) aufwiesen.
Schlussfolgerung: Die Autoren kommen zum Schluß, dass MQ sowohl die Lebensqualität als auch die Stimmungslage von Krebspatienten verbessern und spezifische Nebenwirkungen der Behandlung reduzieren kann. Darüber hinaus sehen sie auch die Möglichkeit, dass Patienten durch die reduzierten Entzündungswerte auch einen Langzeitnutzen durch das Üben von MQ haben.
Untersuchung
In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Prognose von Krebspatienten deutlich verbessert. Trotzdem ist Krebs eine in vielerlei Hinsicht überaus belastende Krankheit geblieben und viele Patienten suchen komplementärmedizinische Unterstützung zusätzlich zu ihrer schulmedizinischen Behandlung.
Eine häufig angewandte Methode ist MQ. Die Schulmedizin interpretiert die Wirkung von Qigong als die einer integrierten hypothalamisch gesteuerten Reaktion des Menschen, woraus ein optimiertes Funktionsgleichgewicht des sympathischen und parasympathischen Nervensystems (unser Vegetativum – es steuert alle unwillkürlichen Körpervorgänge) resultiert. Infolge dieses Geschehens kommt es sowohl zu einer Reduktion von emotionalen und physischen Spannungszuständen als auch zu einer Verbesserung der Immunlage.
Eine ganze Anzahl von Studien zu Bluthochdruck, Blutwerten, Stress, Immunfunktion etc. (siehe auch frühere Periodika) haben positive und ermutigende Ergebnisse gezeigt. Allerdings entsprach die methodische Qualität so mancher Untersuchung – wie schon oft moniert – nicht den gängigen naturwissenschaftlichen Kriterien. Und so beschlossen die Autoren der zitierten Untersuchung, im Rahmen einer Pilot-Studie unter kontrollierten Bedingungen die Wirkung von MQ auf die QOL von Krebspatienten im Hinblick auf eine später durchzuführende größere Studie zu erheben. Die Ergebnisse waren so ermutigend, dass sie diese im Jahr 2006 starteten.
In drei großen mit Universitäten zusammen arbeitenden Kliniken wurden in einem Zeitraum von Juli 2006 bis Mai 2008 162 Patienten für die Teilnahme an der Studie gewonnen. Nach einer Einführungssitzung und der Erteilung des schriftlichen Einverständnisses wurde eine Baseline erstellt, Blut abgenommen und die Teilnehmer randomisiert den einzelnen Experimental- und Kontrollgruppen zugewiesen. Die Voraussetzungen für die Teilnahme an der Studie war auf Seiten der Patienten eine bestätigte Krebsdiagnose, Alter ≥ 18 Jahre und eine Überlebenszeitprognose von mehr als 12 Monaten. Ausschließungsgründe waren eine schwere medizinische oder psychiatrische Erkrankung, Epilepsie, Hirnmetastasen, Delirium oder Demenz, medizinische Kontraindikationen wie z. B. schwere orthopädische Probleme, oder wenn bereits Qigong praktiziert wurde.
Die Patienten der Interventionsgruppen erhielten die entsprechende medizinische Behandlung („usual care“) und nahmen an der Qigonggruppe in ihrem Hospital teil. Das Gruppenprogramm wurde über 10 Wochen mit je zwei Treffen pro Woche von 90 Minuten Länge geführt. Die Patienten waren angehalten, während des gesamten Untersuchungszeitraumes zuhause für mindestens eine halbe Stunde pro Tag zu üben und dies auch per Tagebuch schriftlich festzuhalten. Ebenso sollten sie jegliche Nebenwirkungen dokumentieren, es wurden allerdings keinerlei negative Effekte berichtet.
Bei den Übungen handelte es sich um ein Programm aus traditionellen bewegten und stillen Qigongübungen, welche vom Erstautor Bo zusammengestellt worden waren.
Die Teilnehmer der Kontrollgruppen erhielten ebenfalls die entsprechende medizinische Therapie („usual care“) und füllten im Untersuchungszeitraum die gleichen Fragebögen wie die Probanden der Interventionsgruppen aus. Sie waren angewiesen nicht Qigong zu üben.
Zur Statistik
Die Datenanalyse wurde mittels SPSS 15 und STATA 10 durchgeführt. Für die Beschreibung und Zusammenfassung der Baselinedaten (Durchschnitt, Standardabweichung …) wurde deskriptive Statistik angewendet, für die Berechnung der Differenzen zwischen Interventions- und Kontrollgruppen, sowie denjenigen Teilnehmern, welche die Untersuchung regulär beendeten (= Completers) und jenen die ausfielen (= Dropouts) Ki-Quadrat- und Mann-Whitney-Tests. Zur Feststellung von Gruppenunterschieden bezüglich QOL, Fatigue, Nebenwirkungen und Symptomen, Stimmungslage und CRP wurden lineare Regressionsanalysen gerechnet. Zur statistischen Ergänzung von missing data (z.B. nicht vollständig ausgefüllte Fragebögen) wurde multiple Imputation – ein vor allem in der Meinungsforschung angewandtes Verfahren – angewandt.
Resultate
162 erwachsene Patienten nahmen an der Studie teil, in der Baseline gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Interventions- und Kontrollgruppen hinsichtlich Alter, Geschlecht, Familienstand, ethnischer Zugehörigkeit, Ausbildungsniveau, Diagnose des Primärtumors und Status in der Krebstherapie. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer lag bei 60 Jahren, die häufigste Diagnose war Brustkrebs, gefolgt von Darmkrebs. Es gab relativ viele Ausfälle (Dropouts), wiewohl es auch diesbezüglich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Interventions- (32%) und Kontrollgruppen (35%) gab. Die „Completers“ nahmen im Durchschnitt an 8 von den 10 angeleiteten Qigong – Sitzungen teil. Nur 50% der Teilnehmer führten ein Tagebuch, das sie dann auch abgaben, was es erschwerte die Compliance (=Mitarbeit zuhause) zu beurteilen.
Die Teilnehmer der MQ-Gruppen berichteten nach 10 Wochen eine höhere Verbesserung der Lebensqualität sowohl im FACT-G als auch im FACT-F (alle =P<0.001) als die Teilnehmer der Kontrollgruppen, ebenso hinsichtlich der Stimmungslage (P=0.021). Und sie wiesen bessere CRP – Werte (P=0.044) auf.
Diskussion
Die Ergebnisse der Studie belegen klar die Wirkung von MQ auf Lebensqualität, Fatigue, Stimmungslage und Entzündungsparameter bei Krebspatienten. Es kommt vor, dass sich Ergebnisse zwar als statistisch signifikant, nicht aber auch als klinisch relevant erweisen. Das ist in der vorliegenden Studie nicht der Fall, denn die Teilnehmer der Qigonggruppen erzielten im FACT-G im Durchschnitt um 8,23 Punkte höhere Werte als die Teilnehmer der Vergleichsgruppen. In der Literatur wird ein 5 – 10 Punkte Unterschied beim FACT-G als klinisch relevante Differenz in der QOL und den jeweiligen Funktionsskalen des FACT-G gewertet.
Ein weiteres signifikantes Ergebnis zeigte sich im Hinblick auf den Entzündungswert CRP, wobei der präzise Wirkmechanismus von den Autoren nicht erklärt werden kann. Sie mutmaßen, dass Effekte des MQ auf das Immunsystem gegeben sind, zumal eine ganze Reihe von Untersuchungen eine positive Wirkung von Qigong auf Immunparameter bestätigen.
Wie ebenfalls schon in anderen Studien beschrieben wurden keinerlei Nebenwirkungen des MQ von den Patienten berichtet, was erneut die Sicherheit von Qigong bestätigt.
Die Autoren sprechen auch die Grenzen ihrer Ergebnisse an:
Als erste Limitierung nennen sie die aufgrund des spezifischen und eng umschriebenen Teilgebietes ihres Forschungsbereiches die Tatsache, dass keine „sham group“ (sham = Schein-, Fälschung – also eine Gruppe mit einem Leiter, der nur scheinbar Qigong-Übungen gemacht hätte), sondern eine Kontrollgruppe eingesetzt war. Das könnte eine durch die erhöhte Aufmerksamkeit psychologisch bedingte falsch positive Verzerrung der Ergebnisse bewirkt haben. Dem gedachten die Autoren – wenn es denn zu Unterschieden zwischen den Gruppen kommen sollte – schon von vorn herein durch eine nachfolgende größere Studie zu begegnen, diese ist auch schon in Planung.
Als zweite Limitierung führen sie an, die Studie nicht „verblindet“ zu haben, um Placebo – Effekte (besondere Aufmerksamkeit erhalten, Erwartungshaltung, Vorurteile …) auszuschließen. Aber das ist bei einem übenden Verfahren wie Qigong nun mal nicht möglich. Um diesen Umstand zumindest zu relativieren und sozial erwünschte Antworten ausschließen zu können, wurden die Daten von unabhängigen, nicht in persönlichem Kontakt mit den Teilnehmern stehenden Personen erhoben.
Als dritte Limitierung führen die Autoren die mit 34% eher hohe dropout – Rate an. Wobei dieses Phänomen auch von anderen Untersuchungen her bekannt ist, in welchen mit Krebspatienten in unterschiedlichen Krankheitsstadien gearbeitet wurde.
Die Teilnahme an der Untersuchung war freiwillig, was möglicherweise ein bias (=systematischer Fehler) begünstigt haben könnte: Es ist möglich, dass vor allem Qigong – Interessierte teilgenommen haben und damit vergleichsweise weniger Nicht-an-Qigong-Interessierte, was Einfluß auf die Generalisierbarkeit der Ergebnisse haben könnte.
Als letzten Punkt führen die Autoren an, keine Langzeitergebnisse vorweisen zu können. Es wurde nicht untersucht, inwieweit diejenigen Teilnehmer, welche zuhause weiter übten, von ihrer fortgesetzten Qigongpraxis profititierten.
Trotz der o. a. Limitierungen gelangen die Autoren zu dem Ergebnis, dass MQ ein wirksamer und vor allem sicherer Weg ist, die QOL, Fatigue, Stimmungslage, Nebenwirkungen und Entzündungswerte von Krebspatienten zu verbessern.
Aus langjähriger eigener Erfahrung als Qigong -Übender und -Lehrender und vielen Rückmeldungen von meinen Patienten kann ich nur bestätigen, dass Qigong für Krebspatienten eine echte Bereicherung ist und die Lebensqualität bei regelmäßigem Üben nachhaltig fördern kann.
Literatur beim Verfasser