Angst, Verhaltenstherapie und Qigong-Teil I
Mag. Franz Wendtner
Diesmal sollen in zwei Teilen Aspekte des Qigong und der Verhaltenstherapie (VT) im Hinblick auf die psychotherapeutische Wirksamkeit bei Angststörungen betrachtet werden.
Thomas Hölzl unternahm im Rahmen seiner Diplomarbeit „Qigong in der verhaltenstherapeutischen Angstbehandlung“ den Versuch, Qigongübungen in ein verhaltenstherapeutisches Setting zu integrieren und untersuchte die Wirkung spezifischer Qigong – Übungen bei Angstpatienten. In diesem – dem ersten Teil – wird auf Angst, Angststörungen und therapeutische Wege der Behandlung eingegangen, im zweiten Teil in der nächsten Ausgabe unseres Periodikums werden das Experiment und die Ergebnisse der Untersuchung dargestellt.
Angst
kennen wir alle. Sie ist ein normaler Bestandteil unseres Lebens und wie Schmerz ein notwendiges und evolutionsbiologisch sinnvoll angelegtes Signalsystem. Sie macht uns auf Gefahren aufmerksam und erhöht durch Einleitung der Stressreaktion unsere Überlebenswahrscheinlichkeit in Gefahrensituationen. Oder lässt uns Pläne und Handlungsweisen überlegen, überdenken und macht so ein der jeweiligen Situation angemesseneres Verhalten wahrscheinlicher.
So macht sie Sinn.
Aber Angst kann auch krank machen, Krankheit sein.
Mittlerweile kommt es zu einem sprunghaften Anstieg der unterschiedlichsten Angsterkrankungen. 15 – 25% der Menschen in den Industrienationen leiden im Lauf ihres Lebens an behandlungswürdigen Ängsten. Aktuellen Studien zufolge sind gegenwärtig neun Prozent aller Deutschen von krankhafter Angst betroffen.
Neben depressiven Erkrankungen sind Angststörungen bei Frauen die häufigste, bei Männern nach Alkoholsucht die zweithäufigste psychische Störung – Tendenz steigend. Frauen sind von Angst zwei- bis dreimal häufiger betroffen, trotzdem ist Angst durchaus nicht weiblich – Frauen gehen nur anders damit um. Sie suchen eher Therapie auf und scheinen daher in den Statistiken auf, Männer neigen zum Tabuisieren, werden häufiger psychosomatisch krank oder bekommen Alkoholprobleme. Das hat durchaus auch kulturelle und soziale Hintergründe. Frauen dürfen Angst haben – Männer nicht. Die alten Rollenbilder schlagen hier uneingeschränkt durch.
Angst kommt vom lateinischen angustiae bzw. dem urindogermanischen Wort anghos. Beides bedeutet soviel wie Enge, Beklemmung.
Angstkrankheiten
Das ICD 10 (International Classification of Diseases), die von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegebene “Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Kapitel V (F)”, listet eine ganze Reihe von Angsterkrankungen auf.
Auf die häufigsten möchte ich kurz eingehen.
Panikstörung (ICD 10: F41.0)
Eine Panikstörung besteht bei wiederholt aufgetretenen Panikanfällen, die oft spontan – völlig unerwartet und heftig – in an sich nicht mit Angst in Verbindung stehenden Situationen auftreten. Wie z. B. beim Fernsehen, Einschlafen, Busfahren, Lesen – aber auch beim Einkaufsbummel ..
Eine Panikattacke beginnt abrupt, dauert meist zwischen fünf und dreißig Minuten und ist gekennzeichnet von intensiver Angst und extremem Unbehagen. Gleichzeitig treten mindestens vier von vierzehn typischen psychischen oder somatischen Symptomen auf. Am belastendsten schildern Betroffene Herzklopfen oder –rasen, häufig in Verbindung mit Infarktängsten, Enge und Druckgefühle in der Brust, Erstickungsängste, Schwindel, Benommenheit in Verbindung mit der Angst, ohnmächtig zu werden; Übelkeit,
Schweißausbrüche, Zittern, Angst verrückt zu werden, Angst zu sterben.
Der herbeigerufene Notarzt findet in der Regel keine organische Ursache, der Betroffene entwickelt oft eine „Angst vor der Angst“, eine phobische Vermeidungsangst, die ihn die Situationen, in denen eine Panikattacke auftreten könnte, vermeiden lässt. Nicht selten greifen die Betroffenen zu Beruhigungsmitteln oder Alkohol. Aber all diese Vermeidungsstrategien führen nicht zur Angstreduktion sondern schränken den Lebensradius mehr und mehr ein. Dasselbe gilt für die oft in Verbindung mit der Panikstörung auftretende
Agoraphobie (ICD 10: F40.0)
Diese Angstkrankheit ist gekennzeichnet durch Vermeidungsverhalten. Die Betroffenen beginnen, Orte zu meiden, an denen sie schon Panikanfälle hatten, oder an denen es schwierig wäre, zu flüchten. Diese Menschen sitzen im Bus, im Kino, im Theater immer außen in der Sitzreihe, um im Fall von starker Angst die Situation sofort verlassen zu können. Die Angst kann in extremer Ausprägung aber auch so stark sein, dass sie die Wohnung, das Haus nicht mehr verlassen können. Bei Agoraphobie leiden die Betroffenen unter deutlicher und anhaltender Furcht vor Menschenmengen, öffentlichen Plätzen, alleine reisen und Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause. Es kommt mindestens einmal zum Auftreten von mindestens zwei der oben bei Panikstörungen aufgeführten Symptome. Und die Betroffenen wissen, dass ihr Verhalten übertrieben und unvernünftig ist, können aber ohne Therapie wenig oder nichts dagegen tun. Eine depressive Stimmungslage findet sich häufig.
Spezifische Phobien (ICD 10: F40.2)
Neben der hier angeführten Agoraphobie gibt es auch spezifische Phobien, wie z. B. die Angst vor Höhe (Akrophobie) oder Tierphobien, wie die Phobie vor Hunden (Canophobie) oder Spinnen (Arachnophobie). Sie sind ebenfalls charakterisiert von Vermeidung. Auf sie – und andere – spezifische Phobien wird hier nicht näher eingegangen.
Soziale Phobie (ICD 10: F40.1),
Sie wird als stark generalisierte und erheblich beeinträchtigende Angst in sozialen Situationen erlebt. Früher wurde sie als krankhafte Schüchternheit bezeichnet und ist im Grunde die Angst vor sozialer Kritik. Sie ist sowohl gekennzeichnet durch Angst, im Zentrum der Aufmerksamkeit anderer zu stehen als auch durch das Vermeiden von Situationen, in welchen die Möglichkeit besteht, sich zu blamieren oder zu versagen, begleitet von der Gefahr zu erröten, zu stottern, zu zittern oder ähnliches. Ist es nicht möglich, eine entsprechende Situation zu vermeiden oder zu verlassen, können Panikattacken auftreten.
Generalisierte Angststörung (ICD 10: F41.1)
Diese Angststörung zeichnet sich durch starke und anhaltende Ängste und vor allem Sorgen aus, die nicht an spezifische Situationen oder Objekte gebunden sind und den Betroffenen unkontrollierbar erscheinen. Vor allem in der hausärztlichen Praxis zeigen sich hier vielfältige und oft schnell wechselnde somatische Beschwerden ohne organischen Hintergrund – was in der Regel zu wachsender Verunsicherung beim Arzt und zu steigender Beunruhigung, häufig verbunden mit einer Verschlimmerung der Symptome bei den Patienten führt – deren Ängste oder Sorgen sich im übrigen nicht von denen gesunder Menschen unterscheiden. Aber Häufigkeit, Dauer und Intensität sind derart, dass ihr Leben in jeder Hinsicht beeinträchtigt ist und kein Lebensbereicht mehr sorgenfrei erlebt werden kann. Ständig plagt die wiederkehrenden Frage: „Was wäre, wenn?“ … Wenn meine Magenschmerzen nun doch keine Verdauungsstörung sind, sondern Krebs? Was geschieht dann mit mir? Operation? Chemotherapie? Wie werde ich das aushalten? Was geschieht dann mit meinem Partner, meinen Kindern? …. Oder wenn der Partner nicht zur angegebenen Zeit zu Hause ist und der erste Gedanke nicht der an einen Stau ist, in welchem er stehen könnte, sondern der an einen (tödlichen) Unfall …
Die permanente Anspannung führt oft zu erheblichen physischen und psychischen Symptomen wie Verspannungen, Kopfschmerzen, Herzklopfen, Schlafstörungen … was wiederum und erneut Anlass zu Sorgen gibt …
„Angst essen Seele auf“
heißt es in einem Rainer Werner Fassbinder Film.
Damit es nicht dazu kommt, gibt es verschiedene psychotherapeutische Herangehensweisen, eine davon ist die Verhaltenstherapie.
Verhaltenstherapie (VT)
Die VT ist noch relativ jung, sie nahm den Beginn ihrer Entwicklung in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts, ihre Wurzeln reichen allerdings bis ins 19. Jahrhundert zurück. Der Begriff Verhaltenstherapie wurde erstmals von Arnold Lazarus 1958 verwendet. VT beruht auf lerntheoretischen Fundamenten und zeichnet sich durch Interdisziplinarität aus. Sie ist bemüht, nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse aus der psychologischen Grundlagenforschung und der experimentellen Psychologie umzusetzen, sondern bezieht neben anderen auch Erkenntnisse aus den Nachbardisziplinen Medizin, Psychophysiologie, Handlungs-, Kommunikations- und Systemtheorie mit ein. In der wissenschaftlichen Literatur finden sich rund zehnmal so viele Studien zur VT wie über alle anderen Psychotherapieformen zusammen. Dabei ist die VT offen auch für ungewöhnliche und komplementäre Ansätze, siehe die Diplomarbeit von Thomas Hölzl, „Qigong in der verhaltenstherapeutischen Angstbehandlung“. Eine der wichtigsten Grundannahmen der VT ist, dass Verhalten erlernt ist und daher auch wieder verlernt werden kann. Dabei werden auch Emotionen und Kognitionen als verhaltens- und erlebenssteuernde Komponenten mit einbezogen. Im Gegensatz zu früheren Auffassungen bezieht sich in der modernen VT der Verhaltensbegriff nicht mehr nur auf beobachtbares Verhalten, sondern integriert auch physiologische, emotionale, affektive, motivationale und kognitive Elemente. Verhalten gilt dabei als erworben und veränderbar. Ziel einer Verhaltenstherapie ist es, die Selbstkontrolle und Selbststeuerung des Patienten zu verbessern, den Grad seiner Autonomie zu steigern und dauerhaft zu etablieren. Dabei wird Selbststeuerung als „….planvolles, zielgerichtetes Handeln und aktives, bewusstes Problemlösen verstanden. Therapie im Sinne der Selbststeuerung dient dazu, dem Klienten zu helfen, die Kontrolle des eigenen Verhaltens (wieder) selbst zu übernehmen und zwar nicht nur in Bezug auf momentane, sondern auch auf zukünftige Probleme“ (Fliegel et al, 1994, 89).
Dazu werden in der Therapie im wesentlichen drei Schritte umgesetzt. Im Rahmen der Verhaltens- und Problemanalyse wird erhoben, unter welchen Bedingungen das zu behandelnde Problem entstand und welche dieser Bedingungen verändert werden müssen. In der Zielbestimmung wird gemeinsam von Therapeut und Klient konkret vereinbart, was das Therapieziel – z. B. angstfrei und kompetent in sozialen Situationen handeln zu können – ist, und in der Therapieplanung werden die einzelnen Schritte, die notwendig sind, um dieses Ziel zu erreichen, festgelegt.
Verhaltenstherapeutische Verfahren in der Angstbehandlung
Am bekanntesten sind hier wohl die Expositionsverfahren. Dabei wird der Klient in sensu (in der Vorstellung) und/oder in in vivo (real) mit den angstauslösenden Situationen, Objekten etc. konfrontiert, ohne dass – wie vorher vereinbart – eine Flucht oder ein Vermeiden zugelassen wird. Der Klient kann so die Erfahrung machen, dass er die Angst ertragen und selbst bewältigen kann. Viele Patienten erleben im Rahmen so eines Vorgehens das erste Mal, dass ihre Angst auch wieder abklingt und dass sie selber es sind, deren Einfluss auf die eigenen Gedanken und Gefühle diesen Verlauf herbeiführen. Das bekannteste unter den Reizkonfrontationsverfahren ist die „Systematische Desensibilisierung“, die von J. Wolpe entwickelt wurde. Weitere Verfahren sind Flooding, Implosion, Angstbewältigungstraining, verschiedene Selbstverbalisations-trainings oder Kognitive Therapien von Beck oder Ellis. Entspannung, oft in Verbindung mit Phantasiereisen und Vorstellungsübungen, ist ein wesentlicher Bestandteil verhaltenstherapeutischer Herangehensweisen.
Selbststeuerung, Selbstregulation, Entspannung, Imagination und Vorstellung/Visualisierung finden ihre Parallelen im Qigong.
Qigong
Durch das Üben kommt es zum Erleben der drei Grundpfeiler des Qigong: Tiao Shen, Tiao Xi und Tiao Xin, der Harmonisierung des Körpers, der Atmung und des Herzens/ Geistes.
Tiao Shen
Durch die richtige Haltung vor allem im Stehen, aber auch im Sitzen und Liegen wird die aufrechte Wirbelsäule gefördert, der Körper wird als mittig empfunden und der Fluß des Qi optimiert. Wesentlich für ein Gelingen dieser Haltung ist auch der richtige Einsatz von Jing – der durch Muskeleinsatz entstehende natürliche Spannungszustand und Song – etwas bewirken ohne Anspannung, etwas losbinden, Gelassenheit, oder wie A. Zauner–Dungl schreibt: „ Das Fließgleichgewicht von phasischer und tonischer Aktivität kann nur durch das Gesetz der reziproken Innervation ungestört erhalten werden. Qigongübungen werden diesen bewegungsphysiologischen Grundsätzen in vollem Ausmaß gerecht.“ (Zauner-Dungl, 2004)
Tiao Xi
Die Atmung hat große Bedeutung für den Qi-Austausch, wobei Qi nicht nur über die Lunge aufgenommen wird. Wenn die Atmung ruhig ist, wird auch der Geist ruhig sein. Ruhiger Geist und innere Achtsamkeit wiederum unterstützen eine Regulation des Atems und damit einhergehend auch der Muskulatur, des Körpers insgesamt. Das Mitzählen der Atemzüge, das Fühlen und Leiten von Atem und Qi zentrieren und beruhigen geistige Aktivitäten und umherschweifende Gedanken – den „Herzaffen“ und das „Gedankenpferd“ – und fördern so die Harmonisierung des Herzens und des Geistes.
Tiao Xin
Mit Tiao Xin wird wie wir wissen nicht nur der Funktionskreis Herz/Dünndarm bezeichnet, sondern auch Geist und Bewusstheit, sowie ein Teilaspekt der Seele. Dazu gehören Shen – Konzentration, Yi – Aufmerksamkeit und vor allem Shen + Yi = Achtsamkeit. Wir kennen diesen Zustand als den „Qigong-Zustand“ – und spüren ihn als geistige Sammlung und emotionale Ausgeglichenheit, wir sind zentriert ohne Anstrengung, sind in Einklang und Harmonie mit Körper, Geist und Seele. Thich Nhat Han schreibt: „Wo immer die Achtsamkeit ist, findet Verwandlung und Transformation statt.“
Kommen beim Üben dann noch Ehrlichkeit, Ausdauer und Vorstellung hinzu, können diese drei Grundlagen des Qigong miteinander optimal in Wechselwirkung treten und der Übende erlebt, dass er selbst seine physische und psychische Befindlichkeit nachhaltig und wohltuend beeinflussen kann.
Damit ist auch Angst beeinflussbar. Denn wer Angst hat, hat einen schnelleren Puls, ist muskulär verspannt, hat oft die Schultern hoch- und den Kopf ein-gezogen, atmet eher flacher, unregelmäßig und schneller in den oberen Brustbereich hinein und nicht in den Bauch, wie es bei innerer Ruhe geschieht. Die eigenen mentalen Möglichkeiten und die geistige Ausrichtung sind angespannt und eingeengt, denn die Betroffenen sind von ihrer psychophysischen Lage her auf Kampf oder Flucht ausgerichtet, das Vegetativum arbeitet in erster Linie über den Sympathikus, den aktivierenden Ast des Autonomen Nervensystems…
Im Qigong kommt es über die oben angeführte Harmonisierung von Shen, Xi und Xin zu einer Regulierung/Entspannung auf allen Ebenen und damit zu einer unspezifisch wirksam werdenden Beruhigung des Menschen.
Qigong in der Angstbehandlung
Im Gegensatz zu vielen westlichen Psychotherapiemethoden führt der Weg zur Gesundung im Qigong nicht über therapeutische Gespräche, in welchen man sich mit dem Einfluss
vergangener lebensgeschichtlich relevanter Einflüsse auf Entstehung und Verlauf der Angsterkrankung befasst, sondern man zentriert sich auf das Üben und erfährt vielfach alleine durch dieses Üben eine deutliche Besserung der gesamten Symptomatik.
Hierzu finden sich sowohl in der Literatur als auch in den Erfahrungen aus der Praxis unterschiedliche Auffassungen und Erfahrungen bezüglich der Wirksamkeit und Anwendung verschiedener Qigongarten oder Übungsfolgen. Eigene Erfahrungen und die anderer Qigonglehrer und Übender (vgl. Periodikum Nr. 16. 1/2004) zeigen, dass es – vor allem in Verbindung mit Verhaltenstherapie – keine spezifisch organbezogenen Übungen braucht, um nachhaltige Besserungen und/oder Gesundung herbeizuführen.
Dr. Thomas Hölzl (er hat mittlerweile promoviert) hingegen untersuchte in seiner Diplomarbeit „Qigong in der verhaltenstherapeutischen Angstbehandlung“ die Wirkung spezifischer Übungen bei Angstpatienten unter besonderer Einbeziehung des Funktionskreises „Niere“.
Die Darstellung des Experimentes und der Ergebnisse werden Gegenstand des zweiten Teiles von „Angst, Verhaltenstherapie und Qigong“ im nächsten Periodikum sein.
Literatur beim Verfasser