Individuelle Stressprävention durch Qigong
Mag. Franz Wendtner
Stress wird von der WHO als eine der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts gesehen.
Aber – was ist Stress überhaupt? Bei Stress kommt es durch unser Vegetativum – zuständig für die psychophysiologische Steuerung unserer unwillkürlichen Körperfunktionen – zu einer Aktivierung des Sympathikus, des aktivierenden Astes unseres Autonomen Nervensystems. Vereinfacht formuliert steuert er alles was mit Aktivierung zu tun hat und unsere Überlebenswahrscheinlichkeit im Gefahrenfall erhöht. Wir haben mehr Kraft und sind schneller.
Beim Sport als Eustress erwünscht, in Gefahrensituationen – Disstress – überlebensnotwendig und als Dauerbelastung – ebenfalls Disstress – pathogen (= krankheitserregend). Denn dann kommt es über die HPA – Achse (= Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse) zu einer dauerhaften Alarmierung unseres Organismus, einer ständigen Bereitschaft ohne Ausführung, die langfristig zu Erschöpfung bis hin zu krank sein führt. Es kommt zu einer Erhöhung des Adrenalinspiegels, der Muskelanspannung, des Blutdruckes, zu einer erhöhten Ausschüttung von Zucker und Fettsäuren ins Blut und zu weiteren aktivierenden Vorgängen. Im Gegenzug wird der Parasympathikus, zuständig für Ruhe, Schlaf, Erholung und Regeneration gehemmt und so das Wohlbefinden und die Selbstheilungskräfte behindert.
Passiert das zu lange Zeit, kommt es zum GAS = Generelles Anpassungssyndrom. Wir funktionieren zwar, aber auf einem überaktiviert verzerrten Level. Das passiert auch beim sogenannten „freezing“ (= erstarren, wie z. B. ein Kaninchen vor der Schlange). Langfristig kommt es u. a. zu Schlafstörungen und psychischen Problemen wie Ängsten und depressiven Symptomen. Stress kann durch die Überproduktion von ACTH und Cortisol diese Probleme aufrechterhalten und bis hin zu einer manifesten psychischen Krankheit intensivieren. Dauerstress wurde auch als Auslöser von Muskelverspannungen identifiziert. Der daraus entstehende Schmerz führt zu Schonhaltungen, die zu überdauerdauernden Fehlhaltungen bis hin zu massiven Wirbelsäulenschäden führen. Auch für Diabetes Mellitus, Herz-Kreislaufkrankheiten und Arthritis wurde Dauerstress als Auslöser identifiziert.
Nicht abschalten können, ob aus beruflichen oder privaten Gründen macht also krank, denn die Erholung, das anforderungsbezogene Hin- und Herpendeln zwischen Aktivierung und Erholung werden dauerhaft gestört und der Mensch kommt nicht mehr ins Gleichgewicht, die Homöostase (=optimales Funktionsgleichgewicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus).
Erholung ist aber unabdingbar, um mental und organisch gesund zu bleiben und das Wohlbefinden zu erhalten.
Durch Qigong kann man maßgeblich dazu beitragen, die eigene Gesundheit zu erhalten, bestehende Probleme zu minimieren und künftige zu vermeiden.
Darum soll es in diesem Beitrag gehen. Wie immer kann man das Original zu diesem Artikel im Internet unter PubMed (nih.gov) kostenfrei herunterladen und so die Quelle ausgiebig studieren – was ich an dieser Stelle ausdrücklich empfehle. Ein Tip: Wenn das eigene Englisch ein wenig eingerostet ist, kann man ein Übersetzungsprogramm drüberlaufen lassen.
In der Folge wird jeweils kurz auf Ergebnisse von Untersuchungen – meist RCTs (=randomized controlled trials – der „Goldstandard“ in wissenschaftlichen Untersuchungen), zu verschiedenen gesundheitsrelevanten Bereichen eingegangen.
Qigong für Gesundbleiben und Genesung
Die meisten der Ergebnisse, auf die hier Bezug genommen wird, stammen aus randomisierten, kontrollierten Studien. Das sind Untersuchungen, bei denen die Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip entweder der Qigong-Interventionsgruppe oder einer Kontrollgruppe zugeordnet wurden. Es wird bewusst auf die Nennung der Quellen verzichtet, da allein die Angabe der zitierten Quellen mehrere Seiten umfassen würde und es aufgrund der Angabe der Ursprungsarbeit jedem interessierten Leser möglich ist, die jeweils zugrundeliegende Studie zu eruieren.
Hypertonie (Bluthochdruck)
Ein konsistentes Ergebnis von Qigongstudien ist ein gesenkter – sowohl systolischer als auch diastolischer – Blutdruck, was sich auch in Metaanalytische Review-Studien (= Übersichtsarbeiten, welche die Ergebnisse mehrerer Einzelstudien zum Thema zusammengefasst beurteilen) zeigt. Und das bei vergleichsweise geringem Aufwand. So zeigte sich in einer 10 Wochen dauernden Interventionsstudie, dass sich der Blutdruck der Teilnehmer der Qigonggruppe im Vergleich zu dem der Kontrollgruppe bereits bei dreimal pro Woche stattfindenden, jeweils halbstündig ausgeführten Qigongübungen signifikant (ein statistischer Begriff, der aussagt, dass das Ergebnis auf die Intervention und nicht auf einen Zufall zurückzuführen ist) senkte.
Herz, Kreislauf, Atmung
Die Herzratenvariabilität (HRV) ist ein zuverlässiger Indikator für die Stressresistenz – je höher die HRV, desto stressstabiler ist der Mensch. Auch hier wurde bei einem nur dreimaligen Qigongüben pro Woche im Rahmen einer 12 Wochen dauernden Untersuchung eine erhöhte HRV gefunden, was auf eine höhere Aktivität des Parasympathikus hinweist – mithin auf eine Verbesserung des weiter oben angesprochenen anforderungsbezogenen Hin- und Herpendelns der beiden Äste des Vegetativums. Ebenso wurde eine Verbesserung der Lungenkapazität, der Atemmuster und der individuellen Sauerstoffaufnahme gefunden.
Immunfunktion
Qigong hat auch einen positiven Effekt auf verschiedene Immunfunktionen. Beobachtet wurden z. B. eine erhöhte Anzahl und bessere Funktion der Leukozyten (=weiße Blutkörperchen, unsere „Körperpolizei“) und der NK (=natürliche Killerzellen), tw. bereits nach einem Beobachtungszeitraum von nur einem Monat.
Stresslevel
In einigen Studien wurde eine Abnahme des Hormonspiegels der Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol beobachtet, ebenso eine Verringerung der subjektiv empfundenen Stressbelastung.
Schlaf
Qigong führt in der Regel zu einer besseren Schlafqualität, einer Verringerung von Beschwerden durch Müdigkeit oder Erschöpfung, somit zu einer Reduktion der Gefahr, unter Burnout zu leiden. Teilnehmer einer neunwöchigen Intervention mit jeweils zwei einstündigen Qigongeinheiten pro Woche berichteten besseren Schlaf und weniger Müdigkeit. Diese Ergebnisse bestätigten sich auch in einer Katamnese (in etwa: Nachuntersuchung) drei Monate nach Ende dieser Untersuchung.
Angst
Verschiedene Review-Arbeiten belegen positive Wirkungen sowohl auf State- (=momentane), als auch auf Trait- (= in etwa „chronisch“) Angstzustände/-krankheiten. Es ist davon auszugehen, dass Rujing – das Eintreten in die Ruhe – sowohl auf Ängste als auch auf Depressionen einen positiven Einfluss bewirkt.
Depression
Auch hier finden sich Belege, dass Qigong eine positive Wirkung auf depressive Beschwerden haben kann. So wurden Verringerungen der depressiven Symptome unmittelbar und drei Monate nach einer 16-wöchigen Qigong-Intervention und eine verminderte depressive Verstimmung nach einer Intervention von 10 Wochen gefunden. Vermittelt u. a. durch eine Senkung des Cortisolspiegels über den Einfluss von Qigong auf das parasympathische Nervensystem.
Kognitive Funktionen
Qigong geht mit fokussierter Aufmerksamkeit und einer reduzierten Stressreaktion einher. Verschiedene Studien zeigten eine Verbesserung kognitiver Funktionen wie Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung bei Gesunden.
Desensibilisierung
Eine dauerhaft überhöhte psychische und physische Belastung, zunehmend verbunden mit der Unfähigkeit abzuschalten, sensibilisiert und vulnerabilisiert die Betroffenen. Immer geringere Belastungen werden mit immer intensiveren Stresssymptomen beantwortet. Qigong kann zu einer verbesserten Emotions- und Affektregulierung beitragen und so zu einer verbesserten Fähigkeit, sich von Belastungen distanzieren zu können.
Wirkung verschiedener Komponenten von Qigong
Körperliches Training
In der Literatur finden sich gehäuft Hinweise auf den Stellenwert körperlicher Aktivität. So bewirkt mehr Bewegung u. a. mehr Aktivität im Hippocampus (= „Seepferdchen“, eine zentrale Schaltstation in unserem limbischen System = u. a. wichtig für Emotion und Gedächtnis). Das heißt, auf diesem Weg wird eine Reduktion des Einflusses von Cortisol vermittelt und so eine Abnahme der Stressreaktion, also der sympathischen Überaktivität erreicht – sprich: der Stress läßt nach. Für diesen Effekt muss die Aktivität nicht besonders intensiv sein. Insgesamt belegen diese Ergebnisse Hinweise darauf, dass die körperliche Komponente von Qigong einen positiven Einfluss auf viele stressrelevante Prozesse im Zusammenhang mit Stress hat.
Aktive Entspannung, fokussierte Aufmerksamkeit
Wie im Qigong ist Aktive Entspannung, eng verbunden mit fokussierter Aufmerksamkeit, auch in anderen Herangehensweisen wie der Progressiven Muskelentspannung nach Jacobson, in Achtsamkeit und Meditation, oder im Yoga eminent wichtig, um nicht zu sagen, unabdingbar. Ohne hier näher auf spezifische Forschungsergebnisse einzugehen, zeigen sich u. a. eine Reduktion der sympathischen Aktivierung, ein Einfluss auf die Alpha- und Theta-Gehirnwellen, schnellere Erholung nach der Einwirkung von Stressoren und eine Verbesserung der Homöostase – mithin des Wohlbefindens und der Gesundheit.
Kontrollierte Atmung
Generell gilt, dass kontrolliertes und langsames Atmen die sympathische Aktivierung reduziert, die
parasympathische Aktivierung dagegen anhebt. So hilft z. B. ein Ein – Aus – Atemmuster von 4 sec/6 sec in kurzer Zeit, Stress und Nervosität abzubauen.
Elementar im Qigong ist ein kontrolliertes und langsames Atmen vorzugsweise durch die Nase. Hier hat die Forschung belegt, dass Neuronen (=Nervenzellen) im limbischen System stimuliert werden, ebenso in der Amygdala (=Mandelkern, überaus wichtig im Stressgeschehen) und wiederum im Hippocampus. Im Rahmen psychologischer Effekte nehmen Wachheit und Konzentrationsfähigkeit zu, Erregung, Angst oder Wut nehmen ab.
Zusammenfassung
Die hier deutlich gekürzt dargestellte Bandbreite der Ursprungsarbeit zeigt klar, dass Qigong eine wirksame Form der Intervention zur Umkehrung der sympathischen und HPA-Reaktionen – siehe vorne – ist. Die HPA-Achse ist eines der wichtigsten physiologischen Stressreaktionssysteme im menschlichen Organismus.
Qigong kann, da es in einem Zustand aktiver und geistiger Entspannung ausgeführt wird, zu einer entspannteren und resilienteren Lebenseinstellung (Resilienz = Innere Stärke, die Fähigkeit, mit belastenden Lebensumständen/-ereignissen besser umgehen zu können) führen.
Somit kann Qigong sowohl prophylaktisch zur Vermeidung von funktionellen, psychischen, psychosomatischen und somatischen Gesundheitsproblemen, als auch kurativ in einem heilenden Ansatz praktiziert werden. Viele Aspekte der TCM zielen darauf ab, krankmachende Bedingungen gar nicht erst entstehen zu lassen. Qigong ist hierzu hervorragend geeignet – siehe dazu auch frühere Beiträge zu Qigong in unserem Periodikum.
Schlussfolgerungen
RCTs – also randomisierte, kontrollierte Untersuchungen, haben gezeigt, dass das Praktizieren von Qigong eine stressbedingte Überaktivierung unseres Vegetativums positiv beeinflussen kann. Aus wissenschaftlicher Sicht sind die fokussierte Aufmerksamkeit, die bewusste Atmung, die aktive Entspannung und die körperliche Aktivität in der Ausführung von Qigong die tragenden Säulen. Durch eine dauerhafte Übungspraxis von Qigong kann sowohl eine individuelle Stressprävention als auch eine nachhaltige Erholung von Stressbelastungen erreicht werden.
Dabei kann die spirituelle Dimension von Qigong hier in einer naturwissenschaftlich geprägten Übersichtsarbeit gar nicht erfasst werden, geschweige denn überhaupt zur Sprache kommen …
Literatur
Individual Stress Prevention through Qigong. International Journal of Environmental Research and Public Health. 2020 Okt 8;17(19):7342. doi: 10.3390/ijerph17197342PMID: 33050017
Karen van Dam, karen.vandam@oul.nl
Weitere Literatur beim Verfasser