Qigong bei chronischen Zuständen und Erkrankungen
Mag. Franz Wendtner
In dieser Ausgabe möchte ich eine aktuelle Übersichtsarbeit von Bobby H.P. NG und Hector W.H. Tsang zum Thema:„Psychophysiological outcomes of health qigong for chronic conditions: A systematic review” (2009) zusammenfassen. Die (wesentlich ausführlichere) Originalarbeit kann unter www.pubmed.com, (einfach den Anfangsteil des Titels eingeben) als Abstract eingesehen und dann über klicken auf den Button „FULL TEXT AVAILABLE ONLINE WILEY InterScience“ kostenlos downgeloadet werden. Dort finden sich dann auch die ausführlichen Tabellen sowie die statistischen Ergebnisse.
Einleitung
In einer mittlerweile recht beträchtlichen Anzahl von Erhebungen, Studien und Unter-suchungen, sowohl in China und anderen östlichen Staaten, als auch – und zunehmend finanziell von der öffentlichen Hand gefördert – in der westlichen Hemisphäre wird ein positiver Einfluß von Qigong auf die physische und psychische Befindlichkeit des Menschen belegt. Unter anderem wurde nachgewiesen, daß Qigong eine Zunahme von Anzahl und Aktivität von Zellen des Immunsystems (u.a. Leukozyten, Lymphozyten, natürliche Killerzellen …) bewirken kann, einen förderlichen Einfluß auf verschiedene Aktivitäten des Herzens (u. a. auf den systolischen und diastolischen Blutdruck und das Schlagvolumen) und der Lunge (Steigerung der Atemkapazität), sowie auf den Cholesterinspiegel im Blut, hat. Einige Meta-Analysen konnten neben den oben angeführten Effekten einen positiven Einfluss von Qigong besonders auf Diabetes belegen.
Darüber hinaus wirkt Qigong stabilisierend bei depressiven Symptomen und bei Ängsten. Zu diesen Themen habe ich in den letzten Periodika berichtet. In der Literatur finden sich noch wesentlich mehr gesundheitliche Problemkonstellationen und Lebensbereiche, die mittels Qigong positiv beeinflusst werden können.
Eine naturwissenschaftliche Definiton der Wirkweise von Qigong ist auch 2009 (noch) nicht möglich, es gibt nur verschiedene, plausibel klingende Erklärungsversuche, welche sich auf die Meridiane, das Endokrinum, sowie das Nerven- und das Immunsystem beziehen und die Stressreduktion als den wahrscheinlichsten Weg der Wirkungsentfaltung bezeichnen.
Die Autoren der hier vorgestellten Übersichtsarbeit erhoben im Rahmen einer Meta-Analyse die Wirkung von „Health Qigong“ (wörtlich übersetzt: Gesundheitsqigong) auf verschiedene chronische Erkrankungen und Zustände. Dabei werden „statische“ und „dynamische“ Formen von Qigong unterschieden. „Health Qigong“ wird als eine dynamische = bewegte Form von Qigong im Unterschied zu statischen Formen ohne offensichtliche Bewegung bei der Ausführung der Übungen definiert. Dabei wird „Health Qigong“ im Rahmen einer „mind-body-connection“ als Weg, selbständig zur Erhaltung von Gesundheit und Prävention von Erkrankungen beizutragen verstanden und von „Medical Qigong“ abgegrenzt. „Medical Qigong“ wird dabei von den Autoren als Methode, die Heilung von Erkrankung zum Ziel hat und auch „emitted qi“ (von einem Behandler ausgestrahltes Qi) einschließt, verstanden. Im folgenden Text werde ich anstatt des Begriffes „Health Qigong“ den Terminus „Qigong“ verwenden. Unter anderem deshalb, weil sich unser allgemeines Verständnis von Qigong ohnehin mehr auf das von den Autoren als „Health Qigong“ bezeichnete Qigong wie z. B. die
Baduanjin – also die auch bei uns sehr bekannten und gerne geübten „Acht Brokate“ als die meistuntersuchte Form des Qigong, bezieht.
Chronische Bedingungen
Unter chronischen Zuständen oder Bedingungen versteht man Krankheiten oder Behinderungen, die im medizinischen Sinn nicht geheilt werden können und einen negativen, hinderlichen Einfluss auf den Lebensvollzug und die Lebensqualität der Betroffenen haben. Dazu gehören z. B. Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, des Bewegungsapparates oder auch chronische Schmerzen. Ein Großteil der Betroffenen wendet alternative oder komplementäre Ansätze (CAM = Complementary and Alternative Medicine) zur Besserung ihrer Symptome an. In den USA und in Australien kamen Erhebungen zu dem Ergebnis, dass bis zu 60% der betroffenen Erwachsenen und hier besonders ältere Menschen entsprechende Methoden und Mittel anwenden.
Verlässliche Schätzungen gehen davon aus, dass allein in China mehr als 100 Millionen Menschen Qigong im Sinne des von den Autoren als „Health Qigong“ bezeichneten Qigong üben.
Methode/Datenquellen
In einem ersten Schritt der Untersuchung wurde in den Datenbanken:
EBM Reviews-Cochrane Central Register of Controlled Trials
Medline (ovid)
embase (ovid)
CINAHL
nach Artikeln in Englisch gesucht. Dazu wurden verschiedene Schreibweisen von Qigong (Qigong; Qi Gong; Qi Training ….) verwendet.
The China Academic Journals fulltext Database-Medicin/Hygienic Series
wurde unter Anwendung der entsprechenden chinesischen Schriftzeichen nach Artikeln in Chinesisch durchforstet. In einem zweiten Schritt wurden ausschließlich Interventionsstudien von 1997 – 2006 für das weitere Procedere extrahiert.
In die Untersuchung miteinbezogen wurden in erster Linie Qigongformen, die selbstständig geübt wurden.
Entweder in Form von:
- Alleine ausgeführtem Qigong
- In Gruppen ausgeführtem Qigong mit oder ohne selbständige Heimpraxis
- Qigong unter Anleitung eines qualifizierten Lehrers oder unter Anwendung audiovisueller Lernmedien
- oder Qigong als integralem Anteil im Rahmen einer anderen Therapie, dabei sollte Qigong allerdings mindestens die Hälfte der therapiebezogenen Zeit ausmachen.
Ausgeschlossen wurden extern vermitteltes Qi, ausgesandtes Qi und statisches Qigong
(= Stilles Qigong).
Erhoben wurden Biomarker oder physiologisch relevante Ergebnisse wie z. B. die Zytotoxizität von Natürlichen Killerzellen oder die Höhe des Blutdrucks, aber auch Ergebnisse von psychologischen Tests, Fragebögen und Rating-Skalen.
Datenauswahl, Qualitätseinschätzung und Auswertung
Die Datenauswahl wurde von den Autoren durchgeführt. Die methodische Qualität wurde ebenfalls von den Autoren unter Anwendung des JADAD-Score (ein Instrument zur Einschätzung der Qualität randomisierter, kontrollierter Studien durch mindestens zwei Untersucher) eingeschätzt.
Zur Errechnung der Daten wurde die „Cochrane Collaboration Software (Review Manager [Rev Man] Version 4.2 for Windows (Nordic Cochrane Center, Kopenhagen, Dänemark) herangezogen.
Beschreibung der Studie
Von 561 Publikationen aus den fünf Datenbanken wurden 511 ausgeschlossen, entweder weil sie keine Interventionsstudien waren und/oder sich auf ausgesandtes Qi (emitted Qi) bezogen.
Von den verbleibenden 50 Studien wurden weitere 24 ausgeschlossen, weil sie u. a. entweder ohne Kontrollgruppe durchgeführt oder nicht entsprechend randomisiert worden waren oder die jeweilige Baseline (bezieht sich auf die Feststellung der Ausgangswerte einer Untersuchung) nicht entsprach.
26 Studien wurden inkludiert und die Daten von insgesamt 796 ProbandInnen mit einem Durchschnittsalter von 52,5 Jahren ausgewertet.
Am häufigsten wurden kardiopulmonale Funktionen untersucht. Aber auch Fibromyalgie, Funktionen des Immunsystems oder auch des Fettstoffwechsels waren wesentliche Themen. Die meistangewandte und damit auch meist untersuchte Form des Qigong waren die „Baduanjin“, also die „Acht Brokate“.
Ergebnisse
Vierzehn Studien verglichen Qigong mit einer Kontrollgruppe ohne Intervention, zwölf verglichen Qigong mit einer anderen Interventionsform. Die Ergebnisse zeigten hinsichtlich der verschiedenen Körperfunktionen oder beobachteten Symptome wie Immunsystemparameter, Butfette, Blutdruck, Herzfunktion, Schmerz und Stimmungslage mit Schwerpunkt auf depressiven Symptomen deutliche Vorteile für die Qigong-Übenden, verglichen mit den Kontrollgruppen ohne Intervention.
Bei den Kontrollgruppen, die eine andere Form von Intervention wie angeleitetes Körpertraining, Information, Diätberatung etc. hatten, waren die Ergebnisse inkonsistent, allerdings auch hier mit deutlichen Vorteilen für die Qigong-Übenden bei neun von 12 Studien.
Diskussion und Schlussfolgerungen
Mit besonderem Augenmerk auf China weisen die Autoren darauf hin, dass es einige Untersucher gibt, die Qigong als Pseudowissenschaft bezeichnen. Diese Kritik ist – aus westlicher Sicht – zum Teil einfach hausgemacht, vor allem wenn man folgendes in Betracht zieht:
- In China werden seit den 1970er Jahren Wirkungen von Qigong untersucht. Nur: Die meisten dieser Untersuchungen werden in chinesisch veröffentlicht und nicht in Englisch publiziert – was es für internationale Experten sehr erschwert oder sogar verunmöglicht, zu deren Qualität eine Aussage zu treffen. Das ist Wasser auf die Mühlen der Kritiker.
- Die meisten dieser Untersuchungen sind eher kurze Beschreibungen – vielfach Einzelfallstudien – ohne entsprechende Hintergrundinformation, was
- eine Replikation dieser Untersuchungen unter den Anforderungen westlicher Wissenschaftskriterien (Objektivität, Reliabilität, Validität und Generalisierbarkeit) sehr erschwert oder sogar verunmöglicht.
- Es werden sehr viele und unterschiedliche Formen von Qigong untersucht und nicht, wie die westlichen Wissenschaften aufgrund ihrer Ausrichtung verlangen würden, wenige einzelne und gut beschriebene Methoden.
Die Naturwissenschaft bevorzugt eher Kohortenstudien und randomisierte, kontrollierte Studien mit einer möglichst hohen Probandenzahl bei einer nomothetischen Zielsetzung. Das bedeutet, die Ergebnisse sollen im Sinne von wenn/dann – Beziehungen im Rahmen von Naturgesetzlichkeiten generalisierbar sein, um sie auf große Fallzahlen anwenden zu können.
Trotzdem betonen die Autoren, dass die von ihnen in ihrer Meta – Analyse untersuchten Studien klare Evidenz dafür erbringen, dass Qigong positive Wirkungen auf den Gesundheitszustand der untersuchten Übenden hatte – und das bei einer extrem geringen Auftretenswahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen.
Sie betrachten Qigong als eine multikomponente „mind-body“ Intervention, die – aus westlicher Sicht – sowohl Elemente aus dem Stress-Managment inkludiert, als auch Bewältigungsfähigkeiten und –fertigkeiten trainiert und darüber hinaus kognitiv-behaviorale Interventionen und Entspannung einsetzt. Letztlich alles Komponenten, welche besonders in der Verhaltenstherapie als einer der bestuntersuchten Psychotherapieformen bei der Therapie von Angst und depressiven Erkrankungen zum Einsatz kommen.
Die Wirkwege dafür vermuten die Autoren in einer ganzen Reihe von psychophysiologisch vermittelten Reaktionen im Rahmen einer Stressreduktion, die zu einer Regulation des sympathischen und parasympathischen Nervensystems (= unser Vegetativum) führt. Damit verbunden kommt es auch zu einer Verbesserung der Immunfunktion und des Fettstoffwechsels, sowie der damit verbundenen Regulation der Blutfette und, vor allem auch zu positiven Einflüssen auf das kardiovaskuläre und pulmonale System.
Wie bisher – s. o. wird einerseits darauf hingewiesen, dass methodisch erstklassige Arbeiten fehlen, andererseits aber auch auf die Tatsache, dass die Untersuchungen zu Qigong auch in den Industriestaaten zunehmen – und daß die Bereitschaft steigt, solche Untersuchungen finanziell zu unterstützen. Die Anzahl der Studien steigt – ein Zeichen zunehmenden ernsthaften wissenschaftlichen Interesses. Im Hinblick auf seine Sicherheit, die minimalen Kosten und den möglichen klinischen Benefit befürworten die Autoren den breitgefächerten Einsatz von Qigong nicht nur zur Prävention und Gesundheitsprophylaxe, sondern auch und besonders als begleitende und unterstützende Therapie für ältere und gebrechliche Menschen mit chronischen Erkrankungen.
Schlussbetrachtung
Lese ich in der Literatur zur naturwissenschaftlichen Forschung, wie sie westlichen Wissenschaftskriterien folgt und zur positiven Empirie, wie die TCM sie anwendet, bekomme ich öfter den Eindruck, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden. In unterschiedlichen Herangehensweisen und aus unterschiedlichen Ursprüngen kommend beanspruchen beide Ansätze die (ausschließliche) Richtigkeit jeweils ihrer Konzepte oder Betrachtungsweise, anstatt Normen zu schaffen, die es ermöglichen würden, beide Richtungen zu integrieren. Dass dies zumindest teilweise möglich erscheint, dürfte spätestens seit der Untersuchung von Prof. Litscher (2004) aus Graz feststehen, dem es als erstem weltweit gelang, einen Wirkzusammenhang zwischen der Aktivierung von Akupunkturpunkten und der Hirndurchblutung bzw. regionalen Hirnstoffwechselaktivitäten unter naturwissenschaftlichen Bedingungen nachzuweisen (.. das erst Mal doppelblind, Periodikum 1/2007).
Das ganze Szenario erinnert mich an den Schulenstreit zwischen Psychotherapie und Schulmedizin. Seit es möglich ist, psychotherapiebedingte Veränderungen im Gehirn per fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie) – also per diagnostischer Bildgebung – nachzuweisen, ist es auf einmal keine Frage mehr, dass sie wirkt. Nur – das war auch schon so, bevor man das per Zahl und Tomogramm nachweisen konnte… Das trifft auch auf Qigong, respektive die Akupunktur (vgl. Litscher, 2004) zu.
Aktuell wird im Rahmen der Synergetikforschung unter anderen auch an der PARACELSUS PRIVATE MEDIZINISCHE UNIVERSITÄT SALZBURG (PMU) von Prof. Schiepek und KollegInnen am Institut für Synergetik, der Wissenschaft von der Selbstorganisation komplexer Systeme, belegt und prozesshaft dargestellt, wie Psychotherapie wann und wo im Gehirn wirkt.
Ich gehe davon aus, dass auf diese Weise auch bald Qigong, Yoga und Meditation auf breiterer Basis als bisher untersucht werden. Aus wissenschaftlicher und therapeutischer Sicht bleibt zu hoffen, dass es dann möglich wird, ein integrales Modell zu finden, das beiden Schulen gerecht werden kann.
Literatur
Bobby H.P. NG und Hector W.H. Tsang: Psychophysiological outcomes of health qigong for chronic conditions: A systematic review” (2009), Psychophysiology, 46, pp. 257-269. Wiley Periodicals. Abrufbar unter www.pubmed.com
Litscher, G., Rachbauer, D., Ropele, S., Wang, L. & Schikora, D. (2004). Die schmerzfreie Laser-„Nadel“-Akupunktur moduliert die Gehirnaktivität: Erste Nachweise mit funktioneller transkranieller Dopplersonografie (fCTD) und funktionellem Magnetresonanzimaging. Schmerz und Akupunktur 1/2004, S. 4-11. www.Litscher.at
Weitere Literatur beim Verfasser