Qigong und Tinnitus
Mag. Franz Wendtner
Viele von uns kennen es, hoffentlich nur zeitweise oder nicht allzu laut:
Tinnitus –„ das Klingeln der Ohren“: Ohrgeräusche.
Ein von den meisten Betroffenen – in Österreich aktuell zwischen 800 000 und einer Million Menschen – als störend wahrgenommenes Rauschen, Zischen, Pfeifen, Läuten oder Klingeln … in den Ohren, ohne eine externe Geräuschquelle, vielfach in einer subjektiven Lautstärke von 5 – 15 Dezibel. Es kann aber auch wesentlich lauter sein.
Wenn es auftritt, sollte man es so bald wie möglich behandeln lassen.
Ursachen
Es gibt eine ganze Reihe von Gründen für das Entstehen von Tinnitus: bei einem tatsächlich organischen Geschehen handelt es sich oft um einen Schaden im Bereich des Innenohrs, der nach einer Exposition an eine zu laute Geräuschquelle – einen Konzertbesuch oder Knall – entstand. Weiters werden eine ständige Musikberieselung aus Ohrhörern (z.B. MP3-Player), Disco-Besuche und Lärm genannt, aber auch Durchblutungsstörungen und Entzündungen des Innenohrs sind mögliche Ursachen, ebenso Muskelverspannungen im Bereich der Halswirbelsäule oder im Kieferbereich. Was uns zu den psychosomatischen Anteilen von Tinnitus führt.
Stress
Gilt als eine der Hauptursachen von Tinnitus. Egal in welcher Form, kann Stress Tinnitus auslösen und darüber hinaus wesentlich zu seiner Chronifizierung beitragen. So mancher von uns kann bestätigen, dass mit höherem Stress auch subjektiv lauterer Tinnitus einhergeht. Für den einen oder anderen ein Zeichen, ein wenig zurück zu schalten, es ein wenig langsamer anzugehen.
Folgen
Tinnitus wird vielfach als enorm belastend empfunden und kann den Lebensalltag der Betroffenen bis hin zur Arbeitsunfähigkeit einschränken. Gehäuft kommt es zu Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Ohrenschmerzen, Benommenheit und Schwindel. Auch Gereiztheit, Angstzustände und depressive Symptome werden berichtet, wobei besonders hier nicht immer klar zu unterscheiden ist, ob der Tinnitus Ursache oder – wie sehr oft – Folge ist.
Behandlung
Tinnitus ist schwer zu behandeln und wird in der Medizin nach umfangreicher Untersuchung und Diagnosestellung oft mit durchblutungsfördernden und cortisonhältigen Medikamenten behandelt, leider nur zu oft mit mäßigem Erfolg. Chronifizieren sich die Ohrgeräusche, kann es darum gehen, sich an sie zu gewöhnen (Habituation) und es werden Methoden der klinischen Psychologie und Psychotherapie wie Entspannung, Habituationstraining, kognitives Umstrukturieren, Aufmerksamkeitsumlenkung … angewandt. Dazu verwendet man u. a. sogenannte „Noiser“ (engl. noise = Geräusch, Lärm, Krach ..) oder „Masker“- die wie Hörgeräte aussehen, aber selbst ein Geräusch verursachen. Dieses Geräusch ist angenehmer als der Tinnitus und man lernt, sich auf dieses zu konzentrieren, wodurch die tinnitusbedingten und als unangenehm empfundenen Geräusche mit der Zeit aus dem Bewusstsein ausgeblendet werden. Auf dieser Erkenntnis beruht auch die Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT).
Auch Qigong wirkt. Eine Erhebung unter 352 Mitgliedern der Deutschen Tinnitus Liga ergab, dass viele von ihnen Erfahrungen mit unkonventionellen Behandlungsformen hatten, die besten hatte man mit Qigong und Tai Chi gemacht.
Nach Ansicht der Leiter der im folgenden referierten Studie inkludiert Qigong wichtige Elemente moderner Tinnitus-Therapie wie Entspannung, Reduktion von Muskelanspannung, Aufmerksamkeitsablenkung, Stressreduktion, Aktivierung und – wenn in Gruppen ausgeführt – Kommunikation. Qigong wird weltweit in Tinnitus – Kliniken angeboten und geübt. Die im Klinikum Traunstein in Bayern durchgeführte Untersuchung ist nach Aussage der Autoren die erste prospektive, randomisiert und kontrolliert durchgeführte Studie zur Wirkung von Qigong bei Tinnitus.
Untersuchung:
In die Untersuchung wurden nach einem Screening von 237 Patienten der HNO – Abteilung des Klinikum Traunstein 80 Patienten aufgenommen. Voraussetzung für die Teilnahme an der Studie war, dass die Patienten seit mindestens drei Monaten an Tinnitus litten und ein normales Audiogramm, sowie einen regulären Mittelohrstatus aufwiesen. Dieser wurde per Tympanogramm (Messung der Trommelfellbeweglichkeit), Stapediusreflextest (Test zur objektiven Prüfung der Hörvermögens) und einer Otoskopie (Ohrspiegelung) erhoben.
Ausschlußkriterien waren ernsthafte organmedizinische oder psychiatrische Krankheiten sowie die Unfähigkeit, das erforderliche Studienprozedere entsprechend zu erfüllen. Alle Patienten gaben ihre Einwilligung (informed consent).
Tinnitus
Die Art des Tinnitus wurde erhoben und in somatosensorischen Tinnitus und nonsomato-sensorischen Tinnitus differenziert. Die Diagnose „somatosensorischer Tinnitus“ wurde dann gestellt, wenn die Wahrnehmung des Tinnitus in Tonhöhe oder Lautstärke durch Bewegungen des Kopfes, Nackens oder des Kiefergelenks moduliert werden konnte.
Gruppenzuteilung
Je vierzig Patienten mit somatosensorischem Tinnitus und vierzig Patienten mit nonsomatosensorischem Tinnitus wurden in die Studie inkludiert. Von diesen vierzig Patienten pro Krankheitsbild kamen je zwanzig Patienten in die Untersuchungs-, bzw. Kontrollgruppe (waiting-list control group). Die durch einen Computer per Zufallsprinzip gesteuerte Zuteilung (Randomisierung) für die jeweilige Gruppe (Qigong-/ Kontrollgruppe) wurde separat vorgenommen.
Durchführung/Methodik
Die Teilnehmer der Qigonggruppen übten über einen Zeitraum von fünf Wochen zwei mal zwei Stunden pro Woche unter Anleitung einer Qigonglehrerin. Tinnitus wurde vor (t1) und nach (t2) dem Qigong-Programm gemessen und follow-ups (nachfolgende Messungen, um einen ggf. bleibenden Effekt messen zu können) wurden jeweils einen Monat (t3) und drei Monate (t4) nach Beendigung des Programmes erhoben. Der Schweregrad der Belästigung durch den Tinnitus wurde mittels VAS (Visuelle Analog-Skala) und mittels TBF-12 (Tinnitus-Beeinträchtigungs-Fragebogen, eine Kurzform des Tinnitus Handicap Inventory) erhoben. Bei einer VAS – Skala handelt es sich um eine Skala mit Werten von 0 – 10. Je höher die subjektive Belastung ausfällt, desto höher ist der Wert auf der VAS. Nur die Werte derjenigen Teilnehmer, welche die Studie komplett absolvierten, wurden zur Berechnung herangezogen (treated per protocol analyses).
Statistik
Die demografischen und klinischen Charakteristika und Werte wurden mittels Varianzanalyse (ANOVA) verglichen. Zur Berechnung der Daten kam das Software Package SPSS 16.0 für Windows zur Anwendung, außerdem t-Tests für post-hoc Vergleiche. Das Signifikanzniveau lag bei 0,05.
Ergebnisse
Es wurden keinerlei relevante qigongbedingte Nebenwirkungen berichtet. Teilnehmer, die an mehr als zwei Übungseinheiten fehlten, wurden aus der Studie genommen und ihre Werte nicht zur Berechnung herangezogen.
80% aller Teilnehmer der Qigonggruppen beendeten die Studie. Die acht Teilnehmer, welche nicht alle Übungseinheiten absolvierten, gaben externe Gründe,wie z. B. berufsbedingte Verhinderungen als Grund dafür an.
Bis auf einen Patienten komplettierten alle Teilnehmer der Kontrollgruppen ihre Fragebögen.
Die Gruppen unterschieden sich untereinander nicht signifikant hinsichtlich Alter, Dauer des Tinnitus, und der Baseline (Erhebung des Ausgangszustandes – um Veränderungen messen zu können) bez. VAS, allerdings bez. der Baseline TBF-12.
In den Ergebnissen zeigte sich sowohl hinsichtlich der mittels TBF-12 (P=.042; P= .015), als auch hinsichtlich der mit der VAS – Skala (P= .001) erhobenen Werte eine signifikante Verbesserung der Situtation der Qigong übenden Gruppen. Der Schweregrad der subjektiven Beeinträchtigung durch den Tinnitus hatte deutlicher abgenommen als bei den Teilnehmern der Kontrollgruppen. Dieser Effekt zeigte sich bereits am Ende der Untersuchung (t2) (TBF: P=.03; VAS: P<.001), war nach einem Monat (t3) nur auf der VAS – Skala signifikant (TBF: P=.07; VAS: P=.03) und drei Monate nach (t4) Studienende hochsignifikant in beiden Messinstrumenten (TBF: P<.01; VAS: P<.0001).
Wurden die Werte der beiden Subgruppen somatosensorischer Tinnitus vs. nonsomatosensorischer Tinnitus verglichen, so zeigte sich, dass die Patienten mit somatosensorischem Tinnitus – also diejenigen, welche die Wahrnehmung des Tinnitus in Tonhöhe oder Lautstärke durch Bewegungen des Kopfes, Nackens oder des Kiefergelenks beeinflussen konnten, mehr von Qigong profitiert hatten als die Patienten mit nonsomatosensorischem Tinnitus.
Diskussion und Ausblick
Als wichtigstes Ergebnis ihrer Untersuchung betrachten die Autoren, dass es bereits nach fünf Wochen des Qigong-Übens, also einem recht kurzen Zeitraum, zu signifikanten Verbesserungen bei diesem bekannt schwer zu behandelnden Problembereich kam. Auch, dass es bei der Subgruppe mit somatosensorischem Tinnitus zu ausgeprägteren Verbesserungen kam, ist bemerkenswert. Ebenso, dass Qigong eine langfristige, nach drei Monaten immer noch messbare Wirkung entfaltet.
Bleibt die Frage zu diskutieren, wie Qigong wirkt: Über Modulation des somatosensorischen Inputs, einen direkten, zentral dämpfenden Effekt, eher generelle Effekte auf physisches und mentales „well-being“ oder durch eine Kombination aller genannten Aspekte? Weitere Forschung auf diesem Gebiet sollte nach Ansicht der Autoren mehr und spezifischere, sowohl psycho-, als auch elektrophysiologische Messmethoden und funktionale Magnetresonanz-Bildgebung (fMRI) beinhalten.
Limitationen der Studie bezüglich ihrer Generalisierbarkeit inkludieren u. a. die geringe Gruppengröße, mögliche Spontanremissionen und einen eventuellen unterrichtsbezogenen Einfluß auf die Ergebnisse (anderer Lehrer, andere Ergebnisse?) … Auch die Tatsache, dass nur Patienten mit normalem Hörvermögen in die Studie eingschlossen worden waren, reduziert die Generalisierbarkeit der Ergebnisse. Darüber hinaus lässt sich auf Basis dieser Ergebnisse nicht feststellen, ob Qigong besser zur Behandlung von Tinnitus geeignet ist als andere meditative Herangehensweisen.
Die hohe Beständigkeit der Teilnahme und Übungsbereitschaft der Patienten, das vorteilhafte Nebenwirkungsprofil (= keine), die geringen Kosten und die vielversprechenden Resultate scheinen Qigong für die Behandlung von Tinnitus zu prädestinieren.
Weitere Studien, die Qigong mit anderen „mindfulness based“ Behandlungsformen vergleichen und die Wirkmechanismen von Qigong erforschen, sind zu fordern.
Auch von meinen Kursteilnehmern und Patienten werden immer wieder positive Effekte auf ihren Tinnitus berichtet. Untersuchungsergebnisse wie das oben referierte bestätigen, dass es sich hierbei nicht nur um Einzelfälle oder subjektive Eindrücke handelt, sondern messbare und überdauernde Veränderungen nicht nur möglich, sondern durchaus zu erreichen sind.
Literatur:
Qigong fort the treatment of tinnitus: A prospective randomized controlled study. (2010)
Biesinger, E., Kipman, U., Schätz, S. und Langguth, B.: Journal of Psychosomatic Research 69, pp. 299-304
Weiter Literatur beim Verfasser